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Grazer kalte Platte
Der Steirische Herbst versucht sich an der «Krise»


Dem Motto «Krise ist immer» hat sich das Grazer Avantgardespektakel Steirischer Herbst in diesem Jahr verschrieben. Eine Krise gibt es auch bei der Veranstaltungsreihe selbst. Finanziell steht das «Zeiterkundungsfestival» ziemlich schlecht da. Das Programm wirkt in diesem Jahr einigermassen beliebig.

Man muss die Krise nicht erst beschwören. Die Welt, laut Google, hat ohnehin kaum ein anderes Thema. Exakt 9661 Mal war in der letzten Woche in deutschsprachigen Medien von der Krise die Rede. Die Kunst, wie man weiss, ist der Profiteur aller Not. Mit ihr kann sich auch der Steirische Herbst freuen. «Krise ist immer» nennt das Avantgardefestival seine diesjährige Ausgabe. Klingt das wie Schadenfreude?

Im siebenunddreissigsten Jahr seines Bestehens ist auch der Steirische Herbst in eine veritable Krise geschlittert. Beim letzten Mal, als Graz ein Jahr lang Kulturhauptstadt war, hat man sich finanziell übernommen. Eine lang ersehnte Veranstaltungshalle führt das Festival jetzt als Betreiber, doch das luxuriöse Gebäude hinterm Bahnhof hängt schwer in den Bilanzen. Krisen also überall? Mitnichten. Denn das diesjährige Programm feiert vor allem eine unerschütterliche und fröhliche Avantgarde. Wolfgang Bauer, der ortsansässige Dramatiker, liess grüssen, Peter Weibel ist eine grosse Ausstellung gewidmet, und das Grazer Kunsthaus brilliert mit kinetischer Kunst von Jean Tinguely bis heute.

«Bleiben oder gehen»

Die Zeiten, als der Steirische Herbst sich verpflichtet fühlte, ein gesellschaftliches Statement abzugeben, sind längst vorbei. Und so muss man sich in Graz die thematischen Bezüge schon zusammensuchen. Im Forum Stadtpark wird man dabei noch einmal auf Margaret Thatcher eingestimmt. «Es gibt keine Alternativen» zum wirtschaftlichen Liberalismus, hat die resolute britische Premierministerin in den achtziger Jahren gesagt. «there must be an alternative» kontert die Ausstellung im Grazer Forum Stadtpark und zeigt Beispiele internationaler Interventionskunst und die filmisch gestaltete Broker-Endzeit «Middlemen» von Aernout Mik. An der Börse sind Menschen, Zeit und Raum kollabiert.

Die im Sinne des Mottos wohl präziseste Ausstellung zeigt die «Camera Austria» im Kunsthaus Graz. «Bleiben oder gehen» heisst die Schau, in der acht Künstler mit Fotografien und Videos die Vorläufigkeit eines Lebens zeigen, das seinen Ort verloren hat. Siedler im mazedonischen Skopje, in Zagreb oder in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten ringen mit ihren Lebensräumen. Auf den Kairoer Flachdächern konkurriert die Lebenswelt zugewanderter Migranten aus dem Nildelta mit Satellitenschüsseln. Am Athener Stadtrand formieren sich die posturbanen Siedlungen rumänischer Zigeuner aus dem Norden Griechenlands. Maria Papadimitriou hat diese bunte Temporärkultur als ein «Autonomes Museum für alle» dokumentiert. Das ist euphemistisch und doch auch wieder nicht. Die höchst gelungene Ausstellung liefert keine journalistischen Reportagen, sondern sie verdichtet die Frage der Migration zu einer Erzählung, in der das Wort «Krise» an prominenter Stelle steht. Mladen Stilinovic hat seine «Bag- People» auf einem kroatischen Flohmarkt fotografiert. In Plasticsäcken tragen sie das Erstandene nach Hause. Die gestaffelt hintereinander aufgestellten Fotos ergeben eine Bewegung, die aussieht wie eine kollektive Flucht.

Peter Weibel bleibt. Schliesslich zählt der altinternationale Künstler und Kunsttheoretiker gemeinsam mit Wolfgang Bauer zu den Grazer Old Boys, die der Steirische Herbst heuer aufs Feld schickt. Weibel wird dort gefeiert, wo er als Chefkurator auch programmatischer Hausherr ist - in der Neuen Galerie. Die grosse Personale «das offene werk 1964 - 1979» zeigt den Künstler als jungen Mann. Damals noch ausserhalb der Institutionen und gegen diese. In einer Aktion des Jahres 1971 hält Weibel unter die Tafel an einem Wachzimmer - «Polizei» - das Schild «lügt». Kunst als politische und poetische Einheit - so beginnt Peter Weibels Werk. Wie Weibels visuelle Poesie Körper und Raum erobert, ist in Graz zu sehen. Mal näht sich der Künstler «narbengedichte» unter die Haut, mal wird seine Zunge in einen Betonblock eingegossen. Ohne Schmerz ist die Kunst nicht zu haben, der Künstler nicht ohne sein Blut. Bei der Körperaktion «zeitblut» des Jahres 1979 fliesst Peter Weibels Blut in einen Behälter und verfinstert den Fernsehzuschauern so den Bildschirm.

Das kalte Herz

Die luxuriös weitläufige und wichtige Ausstellung dokumentiert Peter Weibels Werk in unterschiedlichsten Stadien - von den frühen Arbeiten mit Texten bis zu Film, Video und Medienkunst. Mit dem Bezug auf die Sprache bleibt Weibel sich treu. Es ist eine Ironie des Wortwörtlichen, die den Betrachter hineinzwingt in ein Spiel um Sprache, Bewusstsein und Wirklichkeit. In «ichmasse - masseich» läuft ein Tonband gleich durch drei Magnetophone. Das Wort «Ich» wird von einem zum anderen weitergespult und auf diese Weise von allen geteilt. Es ist eine gemeinschaftliche Einsamkeit, die auf vertrackte Art vielleicht auch an die solitäre Rolle der österreichischen Avantgarde erinnert. Von Peter Weibel ist dann auch der Weg zur Wiener Gruppe nicht weit, deren anarchischstes Mitglied im Grazer Literaturhaus gewürdigt wird. Konrad Bayers Roman «der kopf des vitus bering» hängt in mehreren seiner Manuskriptfassungen an den Wänden. Seine Expedition führt mitten durch Philosophie und Schamanismus, Wahn und Wirklichkeit. Vitus Bering, den echten, hat die Nordmeerfahrt in den Tod geführt. Die Ausstellung zeigt Röntgenbilder vom Kopf des dänischen Forschers und das Logbuch des Entdeckers von Alaska.

Wer von der Krise spricht, der wird im Parcours ähnlicher Schlagworte auch die Kälte finden. Es gibt den kirchentagsrelevanten Umgang mit der menschlichen, der «soziale Kälte». Und es gibt die Literatur. Über den kältesten Satz Samuel Becketts hat der Dichter Anselm Glück bei einer Veranstaltungsreihe im Grazer Literaturhaus extemporiert: «Ich wünsche allen ein grausames Leben und dann die Flammen und das Eis der Höllen und bei den widerlichen Generationen der Zukunft ein ehrendes Andenken.» Bei kaltem Herzen kristallisiert die Sprache. Christoph Ransmayrs literarische Endzeitvisionen waren deshalb im Literaturhaus ebenso zu Gast wie Gerhard Rühms Chansons der Niedertracht. «Kalte Platte» nannte der Wiener-Gruppe-Dichter sein Programm. Noch tiefer indes lagen die Temperaturen in einer eigens aufgestellten Kältekammer. Dort konnte man sich kryotherapeutischen Qualen unterziehen. Mit nicht viel mehr als mit Handschuhen bekleidet harrt man idealerweise fünf Minuten aus. Die Temperatur in der Kammer beträgt minus 110 Grad Celsius. Da war sie, die Krise. Spürbar auch in Graz.

Der Steirische Herbst läuft noch bis 7. 11. Die meisten Ausstellungen sind über dieses Datum hinaus zu sehen.

Paul Jandl

erschienen in:
Neue Zürcher Zeitung, 29. 10. 2004