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Visionärin des Lebens
Olga Neuwirths ¸¸ . . . ce qui arrive . . ." in Graz uraufgeführt


Seltsam, dass diese Musik so tröstlich und versöhnlich ist. Dabei wollte sie doch von den Katastrophen erzählen, die durch die Zufälle des Lebens möglich werden. Aber diese Musik glaubt offenbar nicht an Zufälle. Vielmehr predigt sie in ihrer Vitalität einen geradezu vor Glauben strotzenden Determinismus. Alles was geschieht, scheint sie zu sagen, wird mich ermöglichen. Und je unvorhersehbarer, abstruser, unglaublicher die Geschehnisse sind, umso größer werde ich sein, strahlender, überwältigender. Davon handelt Olga Neuwirths neueste Komposition, ¸¸...ce qui arrive...", uraufgeführt beim Musikprotokoll des Steirischen Herbstes in Graz.

Was aber geschieht? Olga Neuwirth, Jahrgang 1968 und längst Österreichs beste, neugierigste und konsequenteste Komponistin, hat sich die Lebenserinnerungen des zwanzig Jahre älteren New Yorker Schriftsteller Paul Auster ausgekuckt. In seinem Buch ¸¸Von der Hand in den Mund" erzählt er streng chronologisch ¸¸Eine Chronik früher Fehlschläge" - der wenig versprechende Beginn einer Schriftstellerkarriere.

Auster tut das als erfolgreicher Autor Jahre später, aber zunehmend schleicht sich Bitterkeit ein über die ungerechten Zufälle des Lebens. Sehr viel interessanter sind dagegen die wüst, hinreißend aneinander gereihten Prosaskizzen in ¸¸Das rote Notizbuch": Knappe und angeblich wirkliche Lebensgeschichten, die durch die unglaublichsten Zufälle in die Katastrophe, ins Heil führen.

Da Auster, der Vielbeschäftigte, keine Zeit hatte, für Neuwirth ein Libretto zu schreiben, war er bereit, aus diesen Texten Passagen fürs Tonband zu lesen - ach was! - zu murmeln. So raunt es nun aus den verschiedensten Richtungen in der Grazer Helmut-List-Halle, ein manchmal kaum mehr verstehbarer Singsang, eine Rezitation fast ausschließlich auf einem Ton, die immer wieder in seliger Wonne mit den Klängen des live spielenden Ensemble Modern unter Franck Ollu verschmilzt, darin kentert, selig ersäuft. Und die Musik, glücklich darüber, ohne das Gängelband einer strengen Konzeption sich an diesen Texten abarbeiten und aufschwingen zu dürfen, kommt aus Urtiefen heraus, jubiliert, klagt, weint, schluchzt, häutet und windet sich, übertreibt ihre Lebensfreude und versandet dann wieder im Katzenjammer. Aber Auster reicht Neuwirth noch lange nicht. Sie hat auch Andrew Patner um einen Song-Cycle gebeten, den Diseuse Georgette Dee singt und mit eigenen Glossen ausziert. ¸¸Kiss a stranger, read a book Hunger is an awful cook No more secrets, no more lies Just fall in love and learn to cry", lässt Patner Dee singen, und Neuwirth macht daraus à la Kurt Weill drei Song-Inseln in der Brandung ihrer begütigenden Urmusik.

Die Komponistin, ganz anders als Auster, blickt hinter die Geschichten. Während sich der Autor als Geisel der Zufälle erfährt, sieht Neuwirth, die Visionärin, in den Zufällen das Prinzip Leben, das, unendlich in seinem Einfallsreichtum sprudelnd, stets neue Überlegungen, Möglichkeiten, Katastrophen, Lüste, Paradiese und Einfälle aufwirft. Neuwirth lebt vergnügt und übermütig in dieser Quelle allen Lebens, Auster dagegen blickt, ganz New-York-Mensch, fassungslos auf dieses manische und wenig um menschliche Bedürfnisse sich bekümmernde Schauspiel, und genauso verhält sich auch die Videokünstlerin Dominique Gonzalez-Foerster.

Links und rechts neben der Leinwand sitzen die Musiker des Ensemble Modern, ganz in Weiß (man glaubt sich bei einer von Karlheinz Stockhausens pantheistischen Sessions), und die Kamera zeigt aus ein und derselben Einstellung eine Meeresküste, vor der Georgette Dee herumturnt, singt, mit Schleiern spielt, zum Mann mutiert. Alles was an Farben hergeht, wird übers Meer gelegt, das dann in Dunkelheit eintaucht. Aber diesem Gegenüber der Videokünstlerin, diesem Misstrauen eines Kulturmenschen gegen die nie stillstehenden Kräfte der Natur, dagegen erhebt Olga Neuwirths Musik beständig Einspruch. Sie will sich, im knirschenden Gegensatz zu Auster, Dee, Patner und Gonzalez-Foerster, nicht einengen lassen durch die Sicherheiten einer verwalteten Kunst-Kultur, sie möchte frei bleiben und frech - ganz egal, was auch passiert.

Reinhard J. Brembeck

erschienen in:
Süddeutsche Zeitung, 23. 10. 2004